Sightseeing mit Schmerzen

1. Oktober 2017

Seit 3 Jahren und 11 Monaten warte ich darauf, meinen fünften Marathon zu finishen. Fast vier Jahre, begleitet von Pech, Unvermögen, fehlendem Willen…

Im Oktober 2016 versuchten wir von lauffreund.de zum zweiten Mal unser Glück und warfen uns beim Berlin-Marathon als Team in den Lostopf – und hatten Glück.
So standen wir (Nils, Silvio und ich) am 24.09.2017 gemeinsam im letzten Startblock irgendwo zwischen Brandenburger Tor und Goldelse rum und warteten leicht nervös darauf, den Berliner Asphalt unter unsere Füße zu nehmen. 

Motivation durch den, mit einem elektronischen Gerät zur Stimmverstärkung ausgestatteten, Orator der Veranstaltung gab es zuhauf. 
Ich hab› keine Ahnung, wie viel Tausende in unserem Startblock standen, aber ein jeder begrüßte die anwesenden Isländer mit deren Schlachtruf, wie wir ihn von der Fußball-EM kennen. Gänsehaut!

10.00 Uhr gab’s dann auch den Startschuss für uns. Da waren die Führenden schon fast an der Halbmarathonmarke. Um 10.08 Uhr trennten sich die lauffreund.de-Wege und jeder kämpfte für sich.

Obwohl ich vor vier Jahren schon hier lief, war ich auch diesmal wieder tief beeindruckt von der Menschenschlange, die sich vor mir durch die Straßen wand. An manchen Stellen konnte man mit Hilfe kleiner Senken weit nach vorne schauen. Unzählige Zuschauer säumten auch diesmal, trotz des Wetters, die Straßen.

Bis kurz vor meiner HM-Marke konnte ich ziemlich fluffig laufen. Ich war schon geneigt, eine Hochrechnung bzgl. meiner Endzeit zu tätigen. Bis dahin hatte ich einen guten 7er-Schnitt zu vermelden. Selbst wenn ich noch etwas langsamer werde, was ja normal ist, könnte ich eine neue PBZ aufstellen. Schön wär’s… Aber wie heißt es so schön – Am Ende kackt die Ente.
Nach ca. 20 km wurde ich etwas schwächer und ich dachte zum ersten Mal daran, dass ich ja grad mal die Hälfte hinter mir hatte und den ganzen Kram nochmal und defintiv nicht mehr so fluffig hinter mich bringen müsste.
Hinzu kam dann, dass ich permanent das Gefühl hatte, in beiden Schuhen ein Steinchen unter dem großen Onkel zu haben. Anhalten, Schuhe aus und nachschauen – nix. Also wieder rein und das störende Gefühl ging weiter und trat immer mehr in den Vordergrund. Ich konnte gar nicht mehr flüssig laufen. Ich fing dann auch auch an, die Frequenz des Laufen-Gehen-Laufens zu erhöhen.

Noch 17 verdammte Kilometer. Wie soll das mit diesen Füßen gutgehen? Mittlerweile war ich mir sicher, dass mein rechter Schuh schon mit Blut überlaufen muss. So schwer es mir auch fallen würde, wieder in den Schuh reinzukommen, versuchte ich nochmal, selbigen auf innere Fehler zu untersuchen. Wieder nix. Ich dachte nun regelmäßig ernsthaft über eine Aufgabe nach. Schon wieder keine Zielankunft…

Vor mir ein Läufer mit drei Wörtern auf der Rückseite seines Shirtes: «Running.Walking.Repeat.» – Motivation ist alles, auch für mich.

Für mich hieß das nun 500m laufen, 500m gehen. In den Gehpausen versuchte ich, mein Gewicht auf die Hacken zu verlagern, damit sich die schmerzende Stelle unter den Füßen entspannen kann. Das funktionierte auch. 
Mittlerweile machte ich mir dann doch schon einen Kopf über das Zeitlimit. Auch das ein Grund, wieder über eine Aufgabe nachzudenken. 

Noch 3 Kilometer und ich könnte einstellig die Kilometer rückwärts zählen. Um mich herum jetzt seit einer geraumen Weile immer die gleichen leidenden Gesichter. Auch die wollen alle noch ins Ziel. Und solange die nicht aufgeben, darf ich auch nicht!

ca. Kilometer 32 – Der Weg wird gesäumt durch einen großen Energietrinkanbieter. Hier gibt es die rote Brause für die letzten Kilometer. Ich lehne dankend ab, da ich keine Experimente mache und gehe meinen Weg. Auf der Hälfte dieser Verpflegungsstelle bricht mir mein linkes Knie weg. Im Nachhinein denke ich, dass das durch meine unnatürliche Gangart wegen meiner Füße heraufbeschworen wurde. Ich konnte mich in dem Moment grad noch so auf den Beinen halten und dachte «Nun ist es doch vorbei. Nur noch 10 Kilometer und ich hätte es geschafft.» Aber irgendwie probierte ich es weiter. 
Es stellte sich heraus, dass ich kaum gehen konnte. Aber wenn ich lief, verzichtete das Knie darauf, mir schmerzende Signale in meinen Kopf zu senden. Ein Teufelskreis! Wenn ich laufe, schmerzen die Füße, wenn ich gehe, schmerzt das Knie.

Ich habe drei Optionen:
Aufhören – wollte ich nun kurz vor dem Ziel eigentlich nicht unbedingt.
Fliegen – kann ich nicht.
Ignorieren – wechselnde Schmerzen im Kopf wegsingen – kann ich.

Ab jetzt mach ich es kurz:
Ich suchte mir 2 Personen, die ich fixierte. Diese zwei bewegten sich durch Speedwalking vorwärts. Wenn ich meine Gehpause machte, entfernten sich beide von mir. Nahm ich wieder Fahrt auf, zog ich mich an sie heran, überholte und wechselte ca 100 Meter vor ihnen wieder ins Gehen. Die restlichen 9 Kilometer teilten sich so meine Schmerzen in Knie und Fuß relativ gleichmäßig auf.

Nach der 40km-Matte verfiel ich schon in Glücksgefühle. 
Ein Engländer mit ähnlicher Figur wie ich lief neben mir und wir unterhielten uns kurz: 
Ich: «We did it»
Er: «YES! I drink a large beer tonight.»
Ich: «and chocolate»
Er: «YES!»
Ich: «Good luck!»
Er: «You to.»

Männer unter sich …

Der letzte Kilometer. Keine Schmerzen. Glück. Stolz. Ich laufe, als ob ich grad erst gestartet bin. Laut Garmin sogar mit einer 6.08 Unter den Linden. Rechts höre ich Silvio meinen Namen schreien. Ich laufe hin und klatsche Silvio, Petra und André ab.

Das Brandenburger Tor – kurz vor mir durchläuft eine Japanerin selbiges, dreht sich rum und verbeugt sich. Sie hat sich auch quälen müssen und fängt jetzt schon an, ihrer tränenreichen Freude Auslass zu gewähren.
Noch 195 Meter und ich habe meinen fünften Marathon endlich in der Tasche. Von links und rechts höre ich mehrfach meinen Namen. Und Zack – Marathoni! Ein Helfer gratuliert mir  mit dem unlustigen Hinweis «Und nun noch 5.000 Meter bis zur Medaillie.»

Die Zeit spielte an diesem Tag unter den Bedingungen keine Rolle. Ich hab durchgehalten. Ein paar Mal war ich wieder kurz davor, mir eine U-Bahn zu suchen. Es gab schon geringere Gründe für mich, aufzugeben. Am Ende hatte ich eine monströse Blase unter dem rechten großen Zeh und von meinem Knie ganz zu schweigen …

Heute, eine Woche später: Von der Blase ist nix mehr da und auch mein Knie hat sich fast komplett erholt. Aber meine Medaillie hängt sichtbar in der Wohnung. Quälen lohnt sich also.

 

Das Thema Stadtmarathon ist allerdings erstmal in einer Schublade vergraben. Ich versuche mich in Zukunft vorrangig in den Wäldern und auf den Bergen meines Thüringer Waldes. 

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